Vortragsveranstaltung mit Professor Dr. Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a.D.
am 1. September 2022 am Landgericht Bochum
Am 1. September 2022 beehrte Herr Vizepräsident am Bundesverfassungsgericht a.D. Professor Dr. Ferdinand Kirchhof die Juristische Gesellschaft Ruhr mit einem Vortrag zum Föderalismus in Zeiten der Krisen. Die gut besuchte Veranstaltung fand in der Kantine des Landgerichts Bochum statt. Die Teilnehmenden kamen sowohl aus der Justiz und der Rechtsanwaltschaft als auch aus der Lehre und der kommunalen Politik.
Herr Professor Dr. Kirchhof zeichnete die lange Linie der Entwicklung des verfassungsrechtlichen Bundesstaatsprinzips nach, welchem als Staatsstrukturprinzip der besondere Schutz der Ewigkeitsgarantie aus Art. 79 GG zukomme, so dass selbst der verfassungsändernde Gesetzgeber es nicht abzuschaffen vermag. Die Trennung der Hoheitsgewalt von Bund und Ländern bilde gleichermaßen neben den Grundrechten das Hauptthema des Grundgesetzes.
Obgleich die verfassungsrechtliche Ausgangslage also strikt sei, könne man dennoch nicht ignorieren, dass weite Teile der Bevölkerung und der Wirtschaft bundesweit einheitliche Regelungen in Deutschland wünschen würden. Gerade in Krisenzeiten werde der Ruf nach zentralstaatlichen Elementen lauter. So wurden etwa bundesstaatliche Regelungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie anstelle landesrechtlicher und kommunaler Bestimmungen gefordert. Unterschiedliche Regelungen in den Ländern als Ausfluss des Föderalismus würden vielfach als störend empfunden. Die Europäische Union richte sich ohnehin nur an ihre Mitgliedstaaten unabhängig von deren innerer Verfasstheit und Gliederung. Der europäische Binnenmarkt errichte ein einheitliches Wirtschaftsgebiet ohne nationale Außengrenzen.
Dieses Spannungsfeld verdiene die besondere Aufmerksamkeit des Verfassungsrechtlers. Weder könnten zentralstaatliche Tendenzen ignoriert werden noch dürfe die grundgesetzliche Entscheidung für den Föderalismus unterlaufen werden. Vielmehr sei zu fragen, ob das Bundesstaatsprinzip ein Relikt aus vergangenen Zeiten sei oder ob es weiterhin eine organisationsrechtliche Entscheidung von grundlegender Bedeutung für unser Staatswesen sei. Welchen Ertrag könne es heute für Demokratie und Rechtsstaat sowie für Freiheit und Selbstbestimmung des Bürgers liefern?
Die anschließende lebhafte Diskussion zeigte, dass mit Thema und Referent ein Nerv unserer Zeit getroffen wurde. So wurde etwa kritisiert, dass der Bund Entscheidungen treffe, die wesentliche Rückwirkungen auf die Zahl aufgenommener Flüchtlinge und Migranten habe, die Bewältigung dieser Herausforderungen aber den Ländern und Kommunen überlasse. Auch hätten sich in der Corona-Krise bemerkenswerte Entscheidungswege etabliert, wenn etwa die Ministerpräsidentenkonferenz mit der Kanzlerin (BKMPK) auf einmal die Infektionsschutzpolitik der gesamten Republik bestimmt habe. Dies sei als „verfassungsrechtliche Anomalie“ anzusehen. Gerade hier zeige sich aber wieder der Spagat zwischen föderaler Staatsordnung und dem Wunsch nach einheitlichen (Krisen-) Regeln.